Marlies Förster - Arbeitsproben
SONNENZEIT
Ich schreibe vom Schimmern
des Weidenkätzchens
vom Wirbeln des Windes im Kreis
ich schreibe vom Himmel
und seinen Farben
von Sonne und Regen zugleich
ich schreibe vom Abglanz
des Regenbogens
vom Echo des Vogelgesangs
ich schreibe im Bannkreis
der Sonnenuhren
berauscht von der Langmut der Zeit
Aus: Sonnenzeit. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2019.
TIHANGE
Kleine Kinder glauben
dass ihnen die Welt gehört
wenn sie groß sind
haben sie Superkraft
und im Ernstfall
einen Zauberspruch
Erwachsene glauben
dass ihnen die Welt gehört
weil sie groß sind
haben sie Atomkraft
und im Ernstfall
Jod-Tabletten
kleine Kinder glauben
dass sie unsichtbar sind
wenn sie die Augen schließen
sind sie in Sicherheit
und im Ernstfall
gar nicht da
Aus: Sonnenzeit. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2019.
DAS UND NOCH MEHR
Was ist schon Liebe
Einverständnis ist alles
Wohlwollen noch mehr
was ist schon Liebe
Fürsorge ist alles
Loslassen ist schwer
was ist schon Liebe
Trauer ist alles
das Leben ist leer
was ist schon Liebe
Erinnern ist alles
ist Wiederkehr
was ist schon Liebe
Liebe ist alles
das und noch mehr
Aus: Sonnenzeit. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2019.
WEGZEICHEN
Es führt kein Weg vorbei
einmal dabei
weiß keiner
wo's langgeht
wir irren umher
mal kreuz und mal quer
weiß keiner
wo's hingeht
ich weiß nur so viel
der Weg ist das Ziel
auch das Leben
verläuft sich
Aus: Wegzeichen. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2018.
AUSRUFEZEICHEN
Alles vollbracht
der Sommer zu Ende
alles vollbracht
die Ernte in Sicht
alles getan
der Tag geht zu Ende
alles getan
die Sterne in Sicht
alles geschafft
das Leben zu Ende
alles geschafft
das Sterben in Sicht
alles versucht
die Weisheit am Ende
papperlapapp
kein Merksatz in Sicht!
Aus: Wegzeichen. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2018.
LIBELLENTANZ
Eine Handbreit überm Wasser
auf und nieder
ohne Anfang und Ende
im Auf und im Nieder
ineinander versunken
eine Handbreit darunter
ein einziger Schatten
mal mehr und mal weniger
Wasser Liebe und Licht
Aus: Libellentanz. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2017.
GLÜCKSUCHE
Du weißt nicht wie
du weißt nicht was
du sehnst dich nur
nach irgendwas
was du auch tust
du ahnst es längst
es ist das Glück
wonach du drängst
du willst es haben
jetzt sofort
es soll dann bleiben
immerfort
schnell greifst du zu
und hältst es fest
mit einem Mal
du ahnst es längst
ist es banal
wonach du drängst
war ein Phantom
du siehst ganz klar
das Glück es war
zu wunderbar
ein Leben lang
nicht aushaltbar
Aus: Libellentanz. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2017.
NOTSTAND
Beim Frühstück schon
Lamentoklänge
das Radio ächzt
so vor sich hin
beim Frühstück schon
Flüchtlingsgedränge
Bomben und Krieg
wo führt das hin
beim Frühstück schon
Entsorgungszwänge
die Kaffeekapsel
wo kommt die hin
beim Frühstück schon
Hiobsgesänge
die Not hält an
wo soll sie hin
beim Frühstück schon
Weltuntergänge
der Honig kleckert
überall hin
beim Frühstück schon
Fanfarenklänge
aber der Kaffee schmeckt
das immerhin
Aus: Kartenhaus. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2016.
MAHLZEIT
Das Körnchen Wahrheit
hat einen bitteren
Beigeschmack
man wird ihn nicht los
das ganze Essen
schmeckt danach
etwas billig
Gourmets mögen das nicht
das Körnchen Wahrheit
in jedem Vorurteil
ist einfach zu penetrant
in aller Munde
Aus: Kartenhaus. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2016.
UNTERDRÜCKUNG
Unter dem Druck der Mächtigen
wird der Wille zerrieben
bis kein Aufstand mehr möglich ist
unter dem Druck der Verhältnisse
wird die Gerechtigkeit verformt
bis der Anstand verloren geht
unter dem Druck der Umstände
zerbröselt das Leben bis nur noch
Alltag übrig bleibt
Aus: Kartenhaus. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2016.
FRÜHLING
Wo hast du nur das ganze Gelb
Weiß Rosa her in welcher Hexen-
küche hast du dich rumgetrieben
wo hast du nur das ganze Blau
Weiß Lila her mit welchem Hexen-
meister hast du dich eingelassen
und wie um alles in der Welt
hast du dieses Grün gezaubert so weit
die Wiese reicht saftsatte Pracht
wo hast du nur die vielen schönen
Blumen her welche Elfenfee
hast du becirct
sag wo in Gottes Namen
hast du diesen Himmel her?
Aus: Wegwarte. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2015.
SONNENBLUMEN
Wie diese schlanken hochgewachsenen
jungen Mädchen stehn sie da
leicht vornübergebeugt etwas
verunsichert warten sie
wie liebreizende zerbrechliche
Statuen stehn sie da
Wind und Wetter und jedem
beliebigen Ansturm ausgesetzt
voller Erwartung stehn sie da
lächeln vertrauensselig
werden bei nächstbester Gelegenheit
von irgendwelchen Wildfremden
im Vorbeigehen geknickt
Aus: Wegwarte. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2015.
BESTANDSAUFNAHME
Das Laub hält goldgelb flirrend
die Sonne fest im Griff
Hummeln und Astern ertasten
einander bereitwillig
kleine wilde Alpenveilchen
flattern wie Schmetterlinge
eine Libelle umschwärmt im Zick-
zack ihr Feenwesen
auch wenn irgendwo unverfänglich
ein Hirngespinst herumgeistert
es gibt diese Tage im Herbst
da flirrt die Luft vor Glück
da hängt deine Seligkeit
am seidenen Faden
Aus: Wegwarte. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2015.
ALTER EGO
Irgendwann hab ich das Alter
aus den Augen verloren
halte Ausschau
wo die Jahre geblieben sind
irgendwann hat das Alter
mich zurückgelassen
ich laufe wie lange schon
der Zeit hinterher
irgendwann wird das Alter
zu mir zurückkehren
dann sind wir wieder vereint
meine Jahre und ich gleich alt
Aus: Herbstmond. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2014.
JAHRGANG
Ich bin ein bisschen alt
geworden mit den Jahren
ist es ein Last
auch wenn ich die Hälfte
auf die leichte Schulter nehme
der Rest wiegt schwer
die Jahre haben's in sich
zwingen mich in die Knie
auch wenn ich die Hälfte
von mir weg schiebe
der Rest drückt umso mehr
die verbleibenden Jahre
lassen nicht locker
keine leichte Aufgabe
sie abzuschütteln
angesichts der Mühsal
jahraus jahrein noch ein bisschen
älter geworden zu sein
eine lästige Notwendigkeit
Aus: Herbstmond. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2014.
GALGENFRIST
Das Schicksal schlägt woanders zu
mich lässt's in Ruhe leben
bei all dem Elend auf der Welt
ein Wunder zugegeben
das Schicksal drückt ein Auge zu
es hat ein Einsehn eben
bei all dem Sterben auf der Welt
ein Wunder zugegeben
dass ich noch ganz lebendig bin
mein Schicksal doch beklage
so sind wir Menschen nun einmal
hier tritt es klar zutage
hilft dennoch nichts das Ende naht
auch dieses kleine Leben
es währt nun schon geraume Zeit
wird demnächst aufgegeben
so ist das nun mal auf der Welt
ich sag es gottergeben
und hoff das Schicksal schlägt nicht zu
ich häng an diesem Leben
Aus: Herbstmond. Gedichte. Iatros: Sonnefeld 2014.
Aus: DAS BISSCHEN SCHILLERN EINER SPUR
Anfang des Romans
Was übrig bleibt, wenn ein Architekt irgendein Hochhaus Stück für Stück zerlegt, heißt Apartment - in der Betonung fragwürdig, unheimatlich in jedem Winkel bedrohlich, mit einer Höhle zum Sterben-Schlafen-Lieben, Kopf an Kopf mit der Wand, unnachgiebig rauhfaserig dunkelbraun wie die stumpfen Frottee-Betttücher, an denen der Schlaf hängenbleibt, bis die Augenlider müde gezappelt weit aufgerissen aufgeben. So starre ich in dieser Nacht, in die ich nicht hineingehöre, wie ich nicht neben diesen Mann gehöre, auf einen Punkt in der Dunkelheit und verknote mich unauflöslich mit der Wachheit: Warum ich zufällig mit ihm und in aller Herrgottsfrühe und nach Griechenland soll! Würde ich ihn wecken und um Liebe bitten, die ich so nötig brauche, er würde sich empören: Wohl verrückt geworden, was? Ich könnte ihn von meinem Siechtum nicht überzeugen, es sei denn, ich stürbe tatsächlich, dann allerdings sein lebenslanges schlechtes Gewissen - ein fast heiterer Gedanke, der mich bis nah an den Schlaf entspannt, wenn ich mich nur einmal kuscheln könnte, egal an wen. Zaghaft schiebe ich mich von hinten heran, lege mich an ihm entlang, rieche mich an seiner Schulter fest, greife über die Seite nach vorn, will etwas von ihm, auch wenn es das nicht ist, hat er natürlich recht. Unersättlich, wird er sagen, zumindest denken, und um Aufschub bitten in Anbetracht der Tatsache, dass wir schon in zwei oder drei Stunden, genau in zwei Stunden und zwanzig Minuten, aufstehen müssen, falls er überhaupt bereit wäre, wach zu werden und mich zu bemerken, was nicht der Fall ist. Abgewandt in seinem Tiefschlaf gibt er den Stöhnlaut von sich, den jede Frau kennt und immer dann hört, wenn sie übertrieben menschliche Regungen zeigt, was zugegebenermaßen für Männer anstrengend ist.
lch versuche die Versöhnung, indem ich ihm zwischen die nackten Beine greife, wo es mitten in der Nacht nichts zu finden gibt. Er schlägt ein Bein über das andere und klemmt sich von mir ab. Ich liege dumm rum mit meiner Hand, die ich noch ohne größeren Stellungsverlust von seinem Bauch auf meine rechte Seite zurückziehen muss; gebe im Lagebericht ehrlich zu, dass diese nächtliche Annäherung meinerseits ihm strategisch gesehen die günstigere Position verschafft morgen, falls es morgen noch gibt, ich nicht schon gefallen bin auf diesem Schlachtfeld, wo immer auf Kosten meiner Ehre dem anderen der "Pour le mérite" an die behaarte Brust geheftet wird. Tatsächlich, ich bitte ihn, auch wenn er es nicht hört, weil er ja schläft, was ja vernünftig ist, um Vergebung für die Unkeuschheit meiner Gedanken, Taten, allein und gegen ihn, gelobe mit nach Griechenland zu fahren und mit Dionysos inkognito die Steigerungsform von bacchantisch auszukosten. Vierzehn herrliche Tage Frühling auf einer griechischen Insel mit einem zivilisierten Mitteleuropäer, der gewöhnlich, wenn er nicht schläft, zärtlich und aufmerksam ist, wenigstens einen Winter lang war er es von Samstag 16 Uhr bis Sonntag 15 Uhr. In dieser Zeit haben wir uns geliebt - abwechselnd umgekehrt in beliebiger Reihenfolge. Bei Bedarf noch das verkürzte Programm für Erwerbstätige von Mittwoch 19.30 Uhr bis Donnerstag 6.10 Uhr. Am Morgen, bis auf weiteres gesättigt, nahmen wir einen leichten Abschied, bis bald, mach's gut, ich werd's versuchen. Die Hormone bestimmen das Wiedersehen, wir telefonieren, wann und in welchem Bett wir uns treffen.
Einmal abends, kaum war er da, legte er mich zurück, schob mich zurecht, öffnete die Hose, kniete nieder - war alles ganz selbstverständlich, wie er sich meine Beine auf die Schultern legte, wie er sich auf die Lippen biss, ganz konzentriert, wie ich ihm zusah dabei.
Irgendwann surrt tatsächlich die Uhr, ganz dezent unüberhörbar quälend ein Produkt ihrer Zeit, obwohl ich eine Nacht lang darauf gewartet habe, überraschend plötzlich. Der Mann neben mir erhebt sich ohne ein Wort und rumort erst im Badezimmer, dann in seinem Koffer: Wir müssen uns beeilen.
Ich nicke; also fahre ich offensichtlich mit nach Griechenland. Ich sehe meine blässliche Gestalt im Unterhemd mit Gänsehaut an Armen und Beinen und sympathisiere mit dem Mann, der mich keines Blickes würdigt. Wir haben keine Zeit für Ausführlichkeiten und keine Lust, schlimm genug für jeden von uns, dass der andere anwesend ist.
Manchmal gibt er die Zeit an, noch l0 Minuten oder in 5 Minuten müssen wir weg; ich folge. Es ist zwar egal, ob ich den Zug und das Flugzeug, und überhaupt ist das alles lächerlich.
Im Aufzug stelle ich übertrieben pünktlich, reiße beflissen die Tür auf, lasse ihm den Vortritt, will jeden aufkommenden Fluchtverdacht zerstreuen, aber der Gedanke, ich könnte eventuell nicht, ist außerhalb seiner Reichweite, also keine Anerkennung meiner Treue und Tapferkeit; er ist mit Fug und Recht unausgeschlafen, und ich verhalte mich so demonstrativ schuldbewusst, dass sogar er kapiert, dass sich daraus Kapital schlagen lässt, und schweigt mich an. Im Aufzug stehen wir mit stelzigen Beinen zwischen unseren Koffern, ich blicke geradeaus in seinen Nacken, in dem ich meine Stirn ausruhen möchte, dieweil ich nach unten falle, hält mich keiner fest, am wenigsten er, der mir unangenehm klein erscheint, geradezu mickrig, offenbar weil wir die gleiche Größe haben.
Unten muss ich sehen, wie ich meinen Koffer aus dem engen Aufzug und hinter ihm her, der davonläuft - den Oberkörper abrupt diagonal gegen seinen Koffer gekehrt, manchmal schwingt der Koffer in die andere Hand und der Oberkörper in einem Halbkreis entgegengesetzt: Mensch mit Koffer laufend, der es geschafft hat, sich das Warten leisten kann mit einem Vorwurf auf den Lippen, als ich endlich nah genug herangekrochen bin, drücke ich die Augen zu, will nicht sehen, dass es vielleicht doch mein Liebster ist, der da steht auf dem Bahnsteig wartend.
Zwei Stationen, sagt er, dann haben wir's geschafft. Was, frage ich. Dann sind wir da. Wo, frage ich. Flughafen, sagt er.
Aus: Das bisschen Schillern einer Spur. Roman. Iatros: Potsdam 2012.